Uhrzeitzeichen
Eine private Leidenschaft
 
Vinzentius

Die Historische Uhr in St. Vinzentius

St. Vinzentius ist die älteste Kirche Bochums. Ihre Anfänge gehen etwa auf das Jahr 950 zurück, in dem der Mönch Ludolf vom Kloster Werden aus nach Bochum-Harpen geschickt wurde, um eine Kirche zu errichten.

Durch glückliche Umstände kam der Autor in den Besitz eines der in den 70er Jahren abgebauten Zifferblätte der Uhr mit 150 cm Durchmesser. Aufwändige Nachforschungen ergaben, dass im Zimmer im ersten Stock des Turmes ein "Haufen Schrott"  liegen würde, von dem allerdings niemand wisse, was das ist.
Die Besichtigung des "Haufens" ergab, dass dort ein großes, teilweise demontiertes Uhrwerk lag, dem allerdigs einige Teile fehlten.

Nach Rücksprache mit der Leitung der Gemeinde erklärte sich der Autor bereit, die Restaurierung in 2009 zu versuchen.

 


                 

Das Ergebnis:
Die Uhr ist vollständig mit allen Funktionen wieder hergestellt. Sie wird als Ausstellungsstück zu Demonstrationszwecken aufgezogen, läuft und schlägt tadellos.

 

Die Uhr war zwischen 1883 und ca. 1975 als Nachfolgerin einer Uhr aus etwa 1550 im Turm der ältesten Kirche in Bochum eingebaut. Sie wurde im Zuge einer umfangreichen Renovierung des Turmes ausgebaut, gegen eine elektrische Uhr mit Funksteuerung ausgetauscht und am Boden liegend im Turmzimmer aufbewahrt. Dabei sind einige Teile verloren gegangen. Auch wurde der Turm so umgebaut, dass nur noch ein schmaler Treppenaufgang für das Turmzimmer vorhanden ist, der den Abtransport der Uhr im Ganzen unmöglich macht. Auch die Originalgewichte und die Seilzüge für den Aufzug sind nicht mehr vorhanden.

Die restaurierte Uhr wird daher als Museumsstück betrachtet. Sie ist wieder voll funktionsfähig und kann zeigen, zu welchem Zweck sie gebaut worden ist.

Baujahr:                      - 1883 (siehe Gravur im Schlossscheibenrad)

 

Hersteller:                   - H. Krancher in Bochum, ausgebildet bei
                                        Schlosserei Ortmann in Dortmund, bei der
                                        zahlreiche Turmuhren gebaut wurden


                                    
                                   

Maße in cm:                     - Breite 155
                                         
- Höhe  110   mit Stuhl:  205                              -                                         - Tiefe    94

Gewicht des Werkes:     - ca. 300 kg

Gewichte Antrieb:          - Gehwerk 40 kg min.

                                          - Schlagwerk 50 kg min. (ohne echten
                                            Glockenhammer)

Restaurierung:               - 2009

Gehwerk:      - Graham-Ankergang(London, Patent 1715)
                          mit geschraubten Ankerpaletten und        
                          Bronzeanker
                        - Gangreserve durch Gewicht (4 kg) und Kralle in
                          Minnutenrad
                        - Niedergang der Gewichte: 11 cm / Stunde
                          (18,5 m / Woche)
                        - 25 Pendelschwingungen pro Minute

Schlagwerk:   - Schlossscheibe innenliegend (Schlossrad)
                         - Schlag auf Glocke im Turm jede halbe Stunde
                           (1 Schlag) und volle Stunde (Stundenzahl) 

 

 

Der Antrieb durch Gewichte

Der Antrieb sowohl des Schlag- als auch des Gehwerks erfolgt über Gewichte. Sie bewirken ein Drehmoment auf das Räderwerk und führen über die Übersetzungen von Seiltrommel auf  das Minuten-, Zwischenboden- und Ankerrad zu einem Impuls auf die Hebefläche der Ankerpalette, der das Pendel in Gang hält. Für das Gehwerk sind min. 40 kg nötig. Die Gewichte gehen pro Stunde etwa 11 cm nieder.

Um die Uhr eine Woche laufen zu lassen, müssen die Gewichte 15,5 Meter hoch gezogen werden. Zu diesem Zweck wurden die Gewichte durch Umlenkrollen im Turm hochgezogen. 

Gangreserve:

Beim Aufziehen der Uhr wird die Kraft der Gewichte durch die Kurbelbewegung kompensiert. Dadurch wirken die Gewichte nicht auf das Räderwerk und die Uhr kommt zum Stillstand. Um dies zu verhindern wurde eine sog. Gangreserve eingebaut. Dazu wird ein Gewicht benutzt, das über eine Welle mit einer Kralle verbunden ist, die in das Minutenrad eingreifen kann. Im normalen Betrieb ist die Gangreserve nicht wirksam, da die Kralle nicht in das Rad eingreift.

Soll die Uhr aufgezogen werden, muss ein Hebel angehoben werden, dessen Ende ansonsten den Aufzugvierkant für das Gehwerk verdeckt.

 

   
 Hebelende vor dem              Vierkant              Kralle mit Gewicht (4 kg)
Vierkant (Normalzustand)     Hebel angehoben                                          

Wird dieser Hebel angehoben, hebt sich über die gleiche Welle sowohl das Gewicht (4 kg), als auch die Kralle, die in das Minutenrad eingreift. Die Uhr wird „in Gang gehalten“. Während des Aufziehens geht die Kralle mit der Drehung des Minutenrades nach unten, fällt am Ende ab und geht so in die „unwirksame“ Lage zurück.

Gehwerk- und Pendeleinstellung:

Die Eingrifftiefe der beiden Ankerpaletten muss so eingestellt sein, dass die
jeweils herabkommende Palette reibungslos so tief fallen kann, dass der
nächste Zahn des Ankerrades problemlos anschlagen kann.
Beim aufwärts gehen der Palette drückt die Kante des Zahnes auf die untere Fläche der Palette und drückt diese nach oben. Die Ankerwelle drückt dadurch mittels der Ankergabel leicht seitwärts auf das Pendel und hält es somit in Gang.

   

Die Pendelscheibe hat ein Gewicht von 21 kg, die wirksame Pendellänge beträgt 168 cm. Die Ankergabel, die diese Kraft überträgt greift mit einem Stift in die Mitte des Pendels ein. Der Stift ist mittels einer Stellschraube nach beiden Seiten verstellbar. Damit kann der Gang der Uhr absolut gleichmäßig (ohne zu hinken) eingestellt werden.

Die Ganggenauigkeit wird durch die Pendellänge bestimmt. Zur genauen Einstellung der Uhr (Abweichung wenige Sekunden pro Woche) kann die Rändelmutter unter der Pendelscheibe auf- bzw. abwärts verstellt werden.

          Fertigung einer neuen Ankerpalette  

                                                            

      Kontrollzifferblatt:
     
     
          Ein normales Kontrollzifferblatt ist nicht vorhanden.

Stattdessen wird die Minutenwelle vorn herausführt und trägt ein loses Kegelrad. Der Rand des Rades ist mit 60 Nuten versehen und kann durch Heben einer Federklemme auf den gewünschten Minutenstand gedreht und fixiert werden.
Das Rad ist bei 15 – 30 – 45 – 60  bezeichnet, sodass der aktuelle Minutenstand abgelesen werden kann. Dazu dient ein stehender Zeiger, der verloren gegangen war und neu gefertigt wurde.

                                   

Das Kegelrad greift in ein zweites, 90o-versetztes Kegelrad mit gleicher Zahnzahl ein. Dieses treibt die senkrecht nach oben führende Welle, die über Verlängerungen (Gabeln) in das Getriebe der Zifferblätter im Turm führt. Es bedarf der einmaligen richtigen Zusammenführung der Kegelräder, um durch die starre Verbindung zum Turmzifferblatt die Zeiger zu fixieren. Das Verstellen des „Minutenrades/Kegelrades“ stellt somit die Zeiger am Turmzifferblatt.                                                

Ein Stellen der Stundenzeiger ist nicht vorgesehen, da das Vor- oder Nachgehen nie mehr als einige Minuten ausmachen kann. Es sei denn, die Uhr ist über Stunden stehen geblieben. In diesem Fall wird bis zum nächsten „richtig-gehen“ gewartet und die Uhr dann wieder in Gang gesetzt.

Die Einstellung des Stundenschlages lässt sich durch „leeren“ Ablauf des Schlagwerkes (Aushängung des Glockenseils) auf den richtigen Stand bringen.

 

           

Die Gewichte

Die für den Antrieb der Uhr nötigen Gewichte aus Stahlplatten zu je 10 kg hängen an Drahtseilen unter den Trommeln. Die Trommeln werden über eine Welle mit einem Trieb gedreht, wobei jeweils zwei Sperrklinken das Zurücklaufen verhindern.
Die Gewichte haben jeweils einen Spalt bis zurMitte, um auf den Träger aufgeschoben werden zu können. Für den Demonstrationsbetrieb werden 40 kg im Gehwerk und 60 kg im Schlagwerk benötigt. 
Für den realen Betrieb muss mit dem 2-3-fachen Gewicht gerechnet werden.

 

           

 

Gravur im Schlossrad:

 Nach der Reinigung des Rades wurde folgende Inschrift wieder lesbar:

 „Zur Erinnerung an die Feier des 400 jährigen
            Geburtstages Dr. Martin Luther´s
                    am 10. November 1883“

 

     


Schlageinrichtung:

Der Schlag wird ausgelöst durch den an der Frontseite befindlichen quer laufenden langen Hebel.

Am rechten Ende dieses Schlagauslöserhebels befindet sich ein beweglich ange- schraubtes Winkeleisen. Wird dieses Eisen nach links umgeklappt, ist der Schlag komplett außer Betrieb. Wird nach rechts geklappt, ist der Schlag aktiviert.

In das außen liegende Kegel- bzw. Minutenrad sind 2 Stifte eingeschraubt. Läuft das Stundenrad um, so drückt jede halbe Stunde ein Stift auf die Platte des Winkeleisens und bewegt den gesamten Hebel (rechts nach unten, links nach oben).

 

Beim Erreichen einer bestimmten Tiefe wird auf der linken Seite (Schlagwerk) der Haken der Windradwelle aus seiner Fixierung befreit und liegt nur noch auf einer Nase des Schlagwerkhebels auf.

Sobald der Stift im Minutenrad über die Platte hinweggeht, kippt der Hebel
 rechts nach oben und links nach unten, und:
          - der Haken der Windradwelle wird freigesetzt und die Welle dreht
            sich
          - der Hebestift läuft innerhalb des Schlossscheibenrades
             und verhindert ein  Abfallen des Hebels, indem das am Hebel
             angebrachte Rollrad nicht in die Aussparung der darunter liegenden
             Rolle einfallen kann.

             - Der Zughebel zum Glockenhammer wird (durch das Gewicht des Glockenhammers) oben gehalten und jeweils durch eine Nocke des darüber liegenden Schlagrades bis zum Durchrutschen (Hammer fällt)  niedergedrückt.

   Nach der entsprechenden Anzahl Schläge fällt der Hebestift durch die 
   Aussparung der Schlossscheibe nach unten, und:

 - die obere Rolle fällt in die Aussparung der unteren Rolle
 - dadurch kippt der Hebel links nach unten,
 - der Haken der Windradwelle wird „gefangen“ und fixiert, das Schlagwerk
   stoppt,
 - das Windrad läuft aus (Ratsche),
 - der Hebel geht rechts nach oben und wartet auf den nächsten Stift des
   Minutenrades.


     

  



Schlussbemerkung:

Die Uhr von St. Vinzentius ist industriell gefertigt worden und ist kein Einzelstück. Trotzdem zeigt sie durch ihre spezifische Bauweise, ihre im Detail ausgefeilte Technik und hohe Qualität des Materials und der Fertigung den hohen Stand der Ingenieurkunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie beinhaltet die Erfahrung mehrerer Jahrhunderte der Uhrmacherei und der damit verbundenen Innovationen. (siehe Graham-Ankergang, patentiert 1715 in London).

Sie war (und ist) durch ihre Größe in der Lage, einen schweren Glockenhammer zu bewegen und einen Antrieb für die Zeiger auf 4 Zifferblättern mit einem Durchmesser von 1,5 m zuverlässig auszuführen.

Sie indiziert die halbe Stunde mit einem Schlag und die Stunden mit der entsprechenden Anzahl Schläge.

Die Korrektur der Zeiger an den Turmzifferblättern kann durch Einstellung an der Uhr selbst erfolgen. Im Zustand nach der Restaurierung und Reparatur in 2009 stellt die Uhr ein Zeugnis für die hohe Kunst der Uhrenherstellung dar, auch wenn sie nicht, wie andere bedeutendere Uhren, über astronomische Anzeigen wie Kalender, Mondlauf und Astrolabium verfügt.

Wie die Bergbaufenster in St. Vinzentius Bezug auf die soziale Struktur der Region nehmen, hat  auch die Uhr in ihrer Umgebung eine Bedeutung. Sie ist nicht nur Teil des sakralen Bauwerks mit dem Ruf zum Gottesdienst, vielmehr war sie weithin sichtbarer Anzeiger der Zeit für die Bevölkerung, sowohl als Wecker als auch Mahner zur Pünktlichkeit.

Sie hat rund 100 Jahre lang zuverlässig gezeigt, „was die Stunde geschlagen hat“.

Sie hat unseren Respekt verdient.

 

Bochum, Dezember 2009

 

Sinn und ZweckGeschichte derZeitmessungAusstellung Haus KemnadeVinzentiusSammlungKontakt